Problem-Kinder?

Das Antibiotikum unserer kranken Gesellschaft

Neulich vor meinem Briefkasten:

Ich war gerade dabei, unerfreuliche Rechnungen zwischen den kostenlosen Zeitungsmassen herauszufischen, als mir ein Flyer in der Größe und Gestalt eines Mousepads zwischen die Finger kam. Darauf abgebildet war das selbstgefällige Grinsen eines ordentlich frisierten Jacketkronen-Trägers, der damit wirbt, dass man bei ihm seine Kinder reparieren lassen kann.

Richtig gelesen: Eltern können ihren Nachwuchs stundenweise abgeben und so justieren lassen, dass sie wieder in ihr krankes System zurückkehren können, ohne dort unangenehm aufzufallen. Hat angeblich schon bei der Polit-Prominenz wahre Wunder gewirkt.

Stein des Anstoßes, Auslöser für diesen Beitrag und absolut unethisch ist der Stempel, der Kindern und Jugendlichen dabei aufgedrückt wird:

Problem-Kinder

So werden sie genannt. Im Titel und selbst die Website enthält die Bezeichnung.

Wie muss sich ein Mensch, ein Kind, ein junger Heranwachsender fühlen, der zu einer Intervention verpflichtet wird, die ihn per se als Problem tituliert?

Welcher gesunde Menschenverstand hat da seinen Geist aufgegeben?

Die unangenehme Wahrheit, der wir uns alle als Eltern stellen müssen, ist die:

Kinder sind NIE das Problem!

Es beginnt bei uns.

Kinder kommen ungefragt auf die Welt und haben keine andere Chance, als sich anzupassen.

Sie lernen. Schnell. Und dann spiegeln sie uns. Brutal. Unbarmherzig. Ohne Zensur.

Sie re-agieren.

Beispiel gefälligst?

Eine Zweitklässlerin, die zu ihren Schulfreundinnen sagt:

„Nur wenn Du dünn bist, bist Du perfekt!“

Ein Sechsjähriger, der seiner Mutter in den Hintern tritt und sie jedes Mal ignoriert, sobald sie ihn anspricht.

Ein Teenager, dessen Meinung zu Equal Pay lautet:

„Wenn Frauen mehr verdienen wollen als ihre männlichen Kollegen, dann sollen sie sich doch einen andern Job suchen.“

Wo kommt das her? Lautet hier die erste, grundlegende Frage, und nicht, wie kriege ich das wieder weg?

Meine Töchter zeigen mir jeden Tag aufs Neue, wie es mir gerade geht.

Bin ich gestresst, steigt der Geräuschpegel bei uns und es wird laut bis die Türen knallen.

Aber sie gehen wieder auf. Und dann beginnt die Arbeit.

Es ist eine Mischung aus Zeit, Geduld und wahrem Interesse, gepaart mit der größten Herausforderung als Elternteil:

Loslassen

Von den eigenen Erwartungen und Vorstellungen, wer unsere Kinder sind.

Ich höre oft den Satz: „Das ist komisch, das hat er/sie nicht von mir!“

Warum auch?

Es ist nicht unser Auftrag, Kopien unserer selbst heranzuzüchten! Und genau das ist der Punkt, ab dem viele Eltern das Gefühl haben, das Kind sei das Problem.

Weil es anders ist.

Weil es andere Bedürfnisse hat.

Weil wir es nicht verstehen.

Weil wir nicht hinhören, hinsehen und 0,0 Empathie dafür besitzen, dass unser eigener Nachwuchs so ganz anders tickt als wir.

Weil es Arbeit ist, an und mit uns selbst.

Wollen wir, dass sie funktionieren oder glücklich sind?

Und was ist mit uns selbst?

Was leben wir vor? Funktionieren wir und versuchen, in etwas hineinzupassen? Kleidergrößen, Rollenklischees, Erwartungen von Gesellschaft und /oder Familie? Oder sind wir bei uns?

Kennen, spüren und akzeptieren wir uns mit all unseren Ecken und Kanten, Pölsterchen, Falten, Lücken, Träumen, Sehnsüchten und Wünschen?

Oder spielen wir unsere Rolle, bis der Vorhang fällt?
Kinder spüren das. Sie haben Antennen, die wie ein Lügendetektor funktionieren, nur können sie es nicht artikulieren, in dem sie sagen: „Liebe Eltern, ich habe das Gefühl, in unserem System stimmt etwas nicht. Können wir kurz darüber reden?“

Ihre Antworten äußern sich in ihrem Verhalten.

 

Kinder sind nicht das Problem.
Sie sind die Antwort auf uns.
Und genau dort müssen wir beginnen.

Wenn wir uns trauen.

Anmerkung

Ich leugne hier keines Falls ernsthafte psychische Erkrankungen. Diese gehören in professionelle, therapeutische Hände und dürfen unter keinen Umständen als coachbare Kinder-Probleme bagatellisiert werden!

Photo by Ava Blank

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