Corona & Wir

Achtsam durch die Krise

Eigentlich wollte ich es nicht tun, über Corona schreiben.

Mach ich auch nicht. Ich lasse dem Experten den Vortritt. Und zwar dem Mann, der vor knapp 44 Jahren eine der bekanntesten Abhandlungen über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft verfasste und die aufgrund der vorherrschenden Pandemie und ihren (eben nicht nur wirtschaftlichen) Auswirkungen aktueller nicht sein könnte.

Haben oder Sein?

Das ist hier die Frage. Die Frage die bewegt, wenn wir plötzlich auf uns selbst zurückgeworfen werden, weil Geschäfte, Freizeit-, Unterhaltungs- und Kulturstätten, kurzum: sämtliche Plätze des geschäftigen Miteinanders geschlossen werden.

Keine Ablenkung mehr von außen.
Keine Dauerbeschäftigung mehr.
Keine Hektik.
Kein Freizeitstress.
Kein Überfluss.
Nur noch das Notwendigste.

Der gesellschaftliche Kreislauf wird runtergefahren, und wer hätte das gedacht: Nudeln und Toilettenpapier sind des Deutschen Herz-Lungen-Maschine (ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Aus einem Land zu kommen, das Rotwein und Kondome hamstert, hat definitiv mehr Sexappeal!)

Jetzt „haben“ wir endlich Zeit.

Der konsumorientierte Wirtschaftsapparat liegt lahm und vegetiert komatös vor sich hin. Immaterielle Existenzfragen können ihre Chance ergreifen und sich mühsam ihren Weg zurück in unser kollektives Bewusstsein bahnen. Die Gelegenheit dafür ist günstiger denn je, weil das Opium fürs Volk knapp geworden ist.

Was motiviert uns? Was macht uns aus? Was liegt unserem Denken, Fühlen und Handeln zugrunde? Eine Besitz- oder Seinsorientierung?

Hast Du nix – kriegst Du nix

Haben oder Sein also? Nun ja, in meinem Fall ist die Antwort klar. Ein Blick auf meinen Kontostand zwingt mich quasi zu der laut Erich Fromm erhobeneren Existenzform des Seins. Das ist die Existenzweise, in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt sondern voller Freude ist, seine Fähigkeiten produktiv einzusetzen und dadurch eins ist mit der Welt.

Das Gesicht meines Vermieters möchte ich sehen wenn ich dem erkläre, dass ich mir nichts mehr aus materiellen Gütern oder Geld mache und daher meine Miete nicht mehr begleichen kann, weil ich jetzt tagsüber mein höheres Selbst im Prozess des unkommerziellen Schreibens entwickle. Schade eigentlich (dass ich das nicht werde sehen können, mein ich), aber unser (Wirtschafts)System ist da nun mal eineindeutig und unmissverständlich.

Hast Du was – bist Du was

Verlust und Neid heißen hier die Gewinner. Wer viel hat, kann gefühlt auch mehr verlieren. Besitzt der andere mehr, erweckt das Verlangen.

Um mich herum haben viele Menschen viel. Ich habe das große Glück in einer wunderschönen Gegend mit noch schöneren Menschen zu leben, die (fast) alle in noch-noch schöneren Häusern residieren und deren Garagen größer als meine ganze Wohnung sind. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich manchmal nicht ein klitzekleines bisschen neidisch bin. Quarantäne in einer 10 Zimmer Villa mit Pool und Sauna hat rein objektiv gesehen gewisse Vorteile gegenüber Lockdown auf 90 Quadratmetern mit Mutter-Kind-Gemeinschaftsbad.

? Fragen über Fragen ?

Was habe ich persönlich (naja, und wirtschaftlich) also davon, mich mit dem Sein zu beschäftigen?
Was bringt es mir, mich an Dingen erfreuen zu können (also an meinen Nachbarn), ohne sie besitzen zu müssen?
Das zu nehmen und zu genießen, was gerade ist?
Im Flow und eins zu sein mit dem, was ich aktuell gerade tue?
Will mich der gute Erich Fromm post mortem einfach nur darüber hinwegtrösten, dass ich weniger „habe“ als andere?
War er mit seinen Gedanken und seiner messerscharfen Analyse eine Art Nostradamus der Armen und Besitzlosen von heute? Der Robin Hood für Achtsamkeit und Seelenfrieden?
Wie lässt es sich erklären, dass sein Werk, 44 Jahre später, im Zeitalter der Globalisierung, Digitalisierung, der absoluten Beschleunigung, genau den Nerv unserer lahmgelegten Gesellschaft trifft?
Sind wir am Ende vielleicht gar nicht so „evolutioniert“, wie wir dachten, sondern haben uns lediglich von unserer menschlichen Natur entfremden lassen durch unseren eigenen Fortschritt?

Fazit

Ich kann Buddhismus orthographisch korrekt niederschreiben, habe begriffen, dass Achtsamkeit auch außerhalb des Straßenverkehrs durchaus sinnvoll ist und tief durchatmen nicht nur lebensnotwendig, sondern, richtig durchgeführt, so manche strafrechtlich zu ahndende Kurzschlussreaktion verhindern kann.

Wohlwollen, Geduld und Seinsorientierung werden uns leider nicht in die Wiege gelegt.

Und daher heißt es wieder? Genau, Hausaufgaben machen!

Wer bin ich? Was macht mich aus? Unabhängig von physisch greifbaren Kostbarkeiten – was bedeuten Fülle und Luxus für mich? Welche Werte verfolge ich in meinem Leben? Mit welchem Erfolg? Und wo liegt dabei für mich die Erfüllung? …und und und…

In diesem Sinne: Namasate und ein erfülltes Wochenende  😉

Photo by Ava Blank

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